Sechs gestalterische Überlegungen zur Berücksichtigung der Neurodiversität - und vieles mehr!

Auf der Suche nach den talentiertesten, innovativsten, produktivsten und kompetentesten Mitarbeiter:innen sind Menschen mit der sogenannten Neurodiversität für Unternehmen zunehmend interessant geworden. Doch damit sie sich entfalten und erfolgreich sein können, muss der Arbeitsplatz an ihre Bedürfnisse angepasst werden - und davon werden alle profitieren.

In den späten 1990er Jahren prägte die australische Soziologin Judy Singer, sie ist eine Person mit Autismus, den Begriff Neurodiversität. Er wurde in autistischen Gemeinschaften schnell aufgegriffen. Aber erst in den letzten Jahren hat er eine größere Verbreitung gefunden.

Laut Kay Sargent, Director of Workplace beim globalen Architektur- und Designunternehmen HOK, ist das Interesse an Neurodiversität und an der Frage, wie Arbeitsplätze integrativer gestaltet werden können, zu einem wichtigen Thema für große Unternehmen geworden. Der Grund dafür ist der anhaltende "Krieg um Talente", wie Kay Sargent es ausdrückt. "Und", fügt sie hinzu, "weil es das Richtige ist."

15-20 % sind neurodivergente Menschen

Aber fangen wir ganz von vorne an. Der Begriff Neurodiversität beruht auf der Tatsache, dass wir alle unterschiedlich sind. Wir alle interagieren und reagieren unterschiedlich auf die Welt um uns herum, auch wenn sich die meisten von uns innerhalb eines bestimmten Bereichs bewegen und daher als neurotypisch bezeichnet werden. Aber bis zu 15-20 % der Menschen gehen über diesen Bereich hinaus und verarbeiten Informationen und sensorische Reize anders. Diese Menschen werden im Spektrum der Neurodiversität verortet, sie sind neurodivergent.

Der Begriff bezieht sich auf die Annahme, dass es keine "normale" Art von  neurokognitiven Funktionen gibt, sondern dass es sich um normale Abweichungen handelt. Abgesehen davon wird der Begriff Neurodiversität am häufigsten für neurologische Erkrankungen wie Autismus-Spektrum-Störung (ASS), Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Dyslexie, Dyspraxie und Tourette-Syndrom verwendet, um nur einige zu nennen.

Alles begann mit der Anfrage eines Kunden

"Jeder Mensch ist ein bisschen anders gestrickt. Sie neigen dazu, entweder hypo- oder hypersensibel auf ihre Umgebung zu reagieren", sagt Kay Sargent.

Kay Sargent hat sich intensiv mit dem Thema Neurodiversität beschäftigt und mit der Frage, wie man Arbeitsplätze so anpassen kann, dass neurodiverse Menschen sich wohlfühlen. Alles begann mit der Anfrage eines Kunden vor fünf Jahren.

"Wir waren gerade dabei, eine Designprüfung abzuschließen, als unser Kunde mich fragte, wie man einen Raum für Menschen mit ADHS gestalten könnte. Ich hatte zwar einige Erkenntnisse, aber die Antwort war nicht gut genug. Das hat mich so fasziniert. Ich begann zu recherchieren und fand so gut wie nichts über die Gestaltung von Arbeitsplätzen, die neurodiversen Menschen entgegenkommen."

Seitdem hat HOK fünf Berichte zu diesem Thema veröffentlicht und kürzlich die nächste Forschungsrunde gestartet.

"Ich denke, wir haben eine Verantwortung und eine moralische Verpflichtung als Designer, dies zu tun. Es ist einfach, das Richtige zu tun. Einer von sieben Menschen ist neurodivers, und weit mehr sind davon betroffen. Sowohl der American with Disabilities Act, als auch der UK Equality Act betrachten Neurodiversität als Behinderung, aber wir ziehen es vor, sie als Superkraft oder Vorteil zu betrachten.

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Es herrscht ein Kampf um Talente, daher ist es absolut wichtig, dass sich alle Menschen am Arbeitsplatz willkommen, einbezogen und wohl fühlen.

Kay Sargent

Diese Talente sollten Sie nicht verpassen

Die Hälfte der Erwachsenen, die neurodivers sind, wissen es nicht einmal, weil es lange Zeit nicht diagnostiziert wurde, betont Kay Sargent.

"Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie in Ihrem Büro Personen haben, die neurodivers sind, ist unglaublich hoch - und das könnte der Grund dafür sein, dass einige Menschen Herausforderungen oder Schwierigkeiten am Arbeitsplatz haben, weil sie neurodivers sind."

Die Anpassung des Arbeitsplatzes an die neurodiversen Bedürfnisse ist jedoch nicht nur eine moralische Verpflichtung, wie Kay Sargent unterstreicht.

"Es gibt einen Kampf um Talente, daher ist es absolut entscheidend, dass sich alle Menschen am Arbeitsplatz willkommen, integriert und wohl fühlen. Und das ist wichtig, weil neurodiverse Menschen so erstaunliche Talente haben. Neurodiverse Menschen neigen dazu, über den Tellerrand hinauszuschauen, sie können in großen Zusammenhängen denken und haben oft eine höhere Innovationsfähigkeit. Außerdem neigen sie dazu, sich hervorragend zu konzentrieren.

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Lange Zeit sind wir bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen von einer Einheitslösung ausgegangen, bei der alle gleich behandelt werden. Aber das ist nicht der Fall.

Kay Sargent

Geben Sie den Menschen Optionen, Entscheidungsfreiheit und Kontrolle

Es scheint eine unmögliche Aufgabe zu sein, einen Arbeitsplatz so anzupassen, dass er den unterschiedlichen Bedürfnissen neurodiverser Menschen gerecht wird. Doch im Gespräch mit Kay Sargent wird schnell klar, dass es im Kern darum geht, den Menschen Optionen, Entscheidungsfreiheit und Kontrolle zu geben. Mit anderen Worten, es entspricht den Ratschlägen der meisten Arbeitsplatzberater:innen und -expert:innen von heute.

"Lange Zeit sind wir bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen von einer Einheitslösung ausgegangen, bei der alle als gleichwertig behandelt werden. Aber das ist nicht der Fall. Wir verarbeiten Informationen unterschiedlich, sogar Neurotypische. Wenn wir alle gleich behandeln, wird es zu einem Szenario, in dem alle gleich groß sind und alle gleich gut passen. Wenn wir Umgebungen schaffen können, in denen es Optionen, Entscheidungsfreiheit und Kontrolle gibt, kann jeder den Raum finden, der sowohl zu seinem Arbeitsstil als auch zu seinen Vorlieben bei der Verarbeitung von Sinneseindrücken passt", sagt Kay und weist darauf hin:

"Wenn unsere Grundbedürfnisse - Sicherheit und Komfort - erfüllt sind, können wir unsere Energie auf das Denken, die Verbindung, das Schaffen und die Innovation konzentrieren."

Kay Sargent vertritt die These, dass auch neurotypische Menschen davon profitieren, wenn wir für Neurodiversität entwerfen. "Wenn man für die Extreme entwirft, profitiert der Durchschnitt."

Wie wirkt sich die Akustik auf Menschen mit neurodiversen Störungen aus?

"Nicht alle Räume sollten den gleichen Geräuschpegel haben. Man sollte ruhigere Zonen anbieten, die konzentriertes, fokussiertes Arbeiten unterstützen, Zonen mit allgemeinen Hintergrundgeräuschen, in denen man Gespräche führen kann, ohne seine Nachbar:innen zu stören, und soziale Zonen mit noch mehr Trubel. Und wir müssen sicherstellen, dass es Zonen ohne künstliches Rauschen gibt, da es bei etwa 10 % der Bevölkerung Kopfschmerzen verursachen kann. Insgesamt sollten wir unterschiedliche Beleuchtungs-, Energie- und Akustikniveaus anstreben, um den verschiedenen Aktivitätsniveaus und persönlichen Vorlieben gerecht zu werden."

Biophilic Design im Büro

Was aber, wenn das Management die Kosten für die Gestaltung dieser Arbeitsumgebung für zu hoch erachtet?

"Erstens: Wenn man es von Anfang an richtig macht, sollte es keine nennenswerten Auswirkungen auf die Kosten haben. Zweitens entfallen etwa 80 % der Kosten eines Unternehmens auf die Humanressourcen. Ungefähr 10 % werden für Immobilien und weitere 10 % für Technologie ausgegeben. Wenn Sie 20 % an Produktivität einbüßen oder Mitarbeiter:innen wegen eines schlechten Arbeitsplatzes abwandern, kostet Sie das mehr Geld, als Sie ausgeben könnten, um den Raum einladender und für alle zugänglich zu machen. Jeder schaut auf die Immobilienkosten, aber niemand scheint die menschlichen Kosten zu berücksichtigen. Es besteht die Möglichkeit, das Engagement, die Produktivität und die Innovation erheblich zu steigern, wenn wir die Räume so gestalten, dass sie die Menschen wirklich unterstützen und sie effektiver arbeiten können. Darauf sollten wir uns konzentrieren."

Wie ist die Resonanz, wenn Sie über Neurodiversität am Arbeitsplatz sprechen?

"Das Interesse ist groß. Vor drei oder vier Jahren wussten die meisten Menschen nicht, was der Begriff bedeutet. Heute führen viele Unternehmen Diversity-Programme ein, und das ist wunderbar. Sie sehen den Nutzen. Aber viele wissen nicht, wo sie anfangen sollen und wo sie Hilfe finden können. Die Industrie hat hier eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Wir haben die Möglichkeit, ein Umfeld zu schaffen, das vielfältig, einladend und integrativ ist, nicht nur zum Nutzen der neurodiversen Menschen, sondern zum Nutzen von uns allen. Und das ist sowohl gesellschaftlich als auch wirtschaftlich sinnvoll.

Drei Bereiche der Empfehlung

Um diesem Interesse gerecht zu werden, haben Kay Sargent und ihr Team bei HOK eine Reihe von Empfehlungen ausgearbeitet, die in drei verschiedene Bereiche unterteilt sind:

  1. Richtlinien und Verfahren
    Hier geht es um allgemeine Vorschläge für Überlegungen zur Einstellung, zum Onboarding und zu betrieblichen Protokollen sowie um Instrumente, die dem Einzelnen helfen können, sich einbezogen zu fühlen und sein Potenzial auszuschöpfen.

  2. Die bauliche Umgebung
    Hier finden sich Ratschläge zur Gestaltung von Bereichen oder Zonen, in denen über- und unterempfindliche Personen die Wahl und ein gewisses Maß an Einfluss auf ihre Umgebung haben, z.B. in Bezug auf die Beleuchtung, den Geräuschpegel und andere stimulierende Faktoren.

  3. Individuelle Anpassungen
    Hier geht es um Programme oder Hilfsmittel, die den Menschen helfen, sich selbst zu steigern, damit sie effektiver arbeiten können. Das kann die Möglichkeit sein, Besprechungen aufzuzeichnen, Diktiersoftware anstelle des Tippens zu verwenden, aus der Ferne zu arbeiten oder einfach Kopfhörer zu benutzen.

In dem Bericht "Designing a Neurodiverse Workplace" (Gestaltung eines neurodiversen Arbeitsplatzes) hat HOK auch die Gestaltungsaspekte hervorgehoben, die ihren Untersuchungen zufolge die wirkungsvollsten Entscheidungen für einen inklusiven Arbeitsplatz sind.

 

Sechs Gestaltungsüberlegungen für einen inklusiven Arbeitsplatz


1. Räumliche Organisation

Es ist wichtig, dass man sich in Räumen leicht zurechtfindet und sie intuitiv versteht. Wenn es chaotisch oder unübersichtlich ist, können manche Menschen nicht arbeiten. Je mehr Menschen nachdenken und sich zurechtfinden müssen, desto unruhiger werden sie. Die Gestaltung von Räumen mit intuitiven Wegfindungselementen kann das angeborene Orientierungssystem unseres Gehirns unterstützen. Sei es durch verschiedene Beleuchtungsstufen, Beschilderung, Kunst oder den strategischen Einsatz von Farben, die als einprägsame Orientierungspunkte dienen.

2. Räumlicher Charakter

Sie können einen Raum verändern, um ihm einen Charakter zu verleihen, der klare Wahlmöglichkeiten bietet. Senken Sie die Decke ab, ändern Sie die Farbe der Wände, verwenden Sie eine weichere Beleuchtung und/oder weichere Materialien, um einen niedrigeren Schallpegel zu erreichen. Ziel ist es, Räume mit Eigenschaften zu schaffen, die sie intuitiv machen und die konzentrierten Aktivitäten, die dort stattfinden, unterstützen.

3. Akustische Qualität

Lärm ist eine der häufigsten Beschwerden, die Menschen über ihre Räume haben. Schaffen Sie verschiedene Zonen, anstatt die Akustik als eine einzige Decke zu betrachten, die sich über den gesamten Arbeitsplatz erstreckt. Der Einsatz verschiedener Hilfsmittel wie etwa weißes Rauschen, natürliche Klänge und weiche Materialien kann dazu beitragen, das richtige akustische Niveau zu schaffen, je nach der Aktivität und dem Energieniveau, das Sie zu erzeugen versuchen. Während neurotypische Menschen Lärm als ablenkend und störend empfinden, kann er für neurodiverse Menschen geradezu behindernd sein.

4. Thermischer Komfort

Wenn man friert oder es zu heiß ist, ist es sehr schwierig, produktiv zu sein. Es ist jedoch nicht möglich, einen Raum so zu gestalten, dass er für jeden den richtigen thermischen Komfort bietet, da viele persönliche Faktoren eine Rolle spielen. Man kann jedoch Hilfsmittel schaffen, die den Menschen helfen, einen Platz mit ihrer bevorzugten Temperatur zu finden. Mit Hilfe der Sonne wird es natürlich Bereiche im Gebäude geben, die zu bestimmten Tageszeiten wärmer oder kühler sind. Mit diesen Informationen, die von Sensoren im Gebäude gewonnen werden, können Sie Echtzeitdaten bereitstellen, die Aufschluss über den thermischen Zustand in verschiedenen Teilen des Gebäudes geben. Sie können auch ein gewisses Maß an individueller Temperaturkontrolle über bedienbare Fenster oder lokale Luftauslässe vorsehen.

5. Beleuchtung

Die Menschen neigen dazu, auf das Licht zuzugehen. Wenn Sie also einen geselligen Raum wollen, drehen Sie das Licht auf. Wenn Sie einen ruhigen Bereich wünschen, sollten Sie das Licht reduzieren. Die Beleuchtung kann dazu beitragen, die Art von Verhalten, die wir in einem Raum wünschen, zu diktieren und zu unterstützen. Und natürlich kann auch der Zugang zu natürlichem Licht einen positiven Einfluss auf die Menschen haben.

6. Grad der Stimulation

Wie in diesem Artikel erwähnt, neigen Menschen mit neurodiversen Störungen dazu, hypo- oder hypersensibel auf ihre Umgebung zu reagieren. Genauso wie Menschen mit unterschiedlichen körperlichen Einschränkungen individuelle, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Lösungen benötigen, ist dies auch bei neurodiversen Menschen der Fall. Für manche ist es ein Mangel an Stimulation, während andere davon leicht überwältigt werden. Die Option, den Grad der sensorischen Stimulation zu kontrollieren oder zu wählen, ist ein wichtiger Aspekt des integrativen Designs.


Weitere Informationen: Dr. Achim Klein
Fotos: Eric Laignel

 


Mehr zur Neurodiversität von HOK:

Designing a Neurodiverse Workplace (Artikel)

Trends affecting neurodiversity towards 2030 (Artikel)

Article by Kay Sargent in Workdesign magazine (Artikel)

On research on hypo and hyper sensitivities (Video)

On pediatric healthcare (Artikel)

Tarkett Neurodiversity Tool, to aid in the selection of flooring materials that support inclusive spaces (Video)